„Bauch“ und „Kopf“ im richtigen Mix

21. Januar 2019

Ignaz Netzer Quartett dringt tief in die Geschichte des Blues vor

Harpstedt - (Kreiszeitung - Bohlken, Jürgen - 21.01.2019)„Es gibt kaum einen Blues-Abend ohne die Geschichte einer unglücklichen Liebe“, weiß Bandleader Ignaz Netzer. „Das hat mich immer sehr gestört. Ich will das ändern“, verriet der gebürtige Allgäuer am Sonntagabend rund 50 Zuhörern, die ihm und seinem Quartett in der Harpstedter Christuskirche lauschten.

Und so servierte der German-Blues-Award-Gewinner von 2015 dem Publikum überraschend einen Song über „eine sehr glückliche Liebe“ mit dem Titel „Bessie, please come home“. In seiner Anmoderation kam er regelrecht ins Schwärmen: „Ich war mit dieser Frau 16 oder 17 Jahre zusammen. Wir hatten kaum Geheimnisse voreinander, unternahmen jeden Abend einen Spaziergang zusammen. Es war so, wie es zwischen Mann und Frau sein sollte. Dazu gehörte unser eigenes Bänkle. Das ist im Schwäbischen ganz wichtig. Ich rede jetzt nicht vom eigenen Kreditinstitut, sondern von einer Sitzgelegenheit, auf der wir uns abends erzählten, was der Tag so gebracht hat. Es war zwischen uns einfach gigantisch. Trotzdem ist sie eines Tages abgehauen. Sie sprang über den Balkon und war weg.“ An dieser Stelle begannen die Zuhörer zu stutzen. Wenig später nahmen sie erheitert zur Kenntnis, dass Netzer von seiner Katze sprach. „Ich hab sie nach der Bluessängerin Bessie Smith benannt. Sie wollte aber einen Doppelnamen. Als hieß sie Bessie Smith-Netzer“, fuhr der Bandleader mit lakonischem Humor fort. Nach Bemühungen, die Beziehung zu „kitten“ und wieder verworfenen Überlegungen, einen „Paartherapeuten“ zu bemühen, sei es ihm mit einem für sie geschriebenen Lied gelungen, sie zurückzugewinnen.

Das Publikum amüsierte sich köstlich über die pointenreiche Geschichte. Musikalisch drangen Ignaz Netzer und seine kongenialen Begleiter tief in die Geschichte des Mississippi-Delta-Blues vor - mit Coverversionen, übrigens auch von Bessie Smith (1894–1937), sowie eigenen Titeln. Dazu gesellte sich bluesverwandter Straßengospel fast vergessener Wanderprediger. Einer dieser „Guitar Evangelists“, Reverend Gary Davis (1896–1972), habe noch im hohen Alter einer Joan Baez oder einem Bob Dylan das Gitarrespielen beigebracht, so Netzer. Apropos Dylan: Zu dieser Folk-Ikone fiel dem Bandleader ebenfalls eine Geschichte ein. Dylan stehe im Guiness-Buch der Rekorde, weil er bei einem Auftritt in Paris mal 46 Minuten zum Stimmen seiner Instrumente gebraucht habe. „Ich wolle auch schon immer in dieses Buch“, sinnierte Netzer. Doch statt auf überlanges Stimmen konzentrierte er sich lieber aufs Spielen und den Gesang - sehr zur Freude des Publikums.

Der Frontmann glänzte mit seiner unglaublich schwarz klingenden Stimme, brillantem Fingerpicking, mitreißenden Blues-Harp-Soli und überraschenden Slide-Guitar-Einlagen, die so in Gotteshäusern nahezu gar nicht zu hören sind. Netzer punktete außerdem mit einem enormen Musikwissen. Er entlarvte etwa Ry Cooders berühmten Soundtrack zum Wim-Wenders-Film „Paris, Texas“ als eindeutig geklaut - von Blind Willie Johnson (1897–1945).

Die „Rhythmus-Sektion“ mit Kontrabassist Hansi Schuller und Schlagzeuger Peter Schmidt begleitete Netzer dezent-akzentuiert. Leadgitarrist Werner Acker, Hochschuldozent für filigrane Jazzgitarre, erwies sich derweil als der perfekte Gegenpart zu dem geerdeten Blues-Frontmann. Hier kam zusammen, was reizvoll kontrastierte: „Bauch“ und „Kopf“ in einer unwiderstehlichen, stimmigen Mischung.

Einige fetzige Gassenhauer enthielt das Quartett seinen Fans in Harpstedt nicht vor. Dazu zählte „Let the good times roll“. Diesen erstmals 1946 von „Louis Jordan and his Tympany Five“ veröffentlichten Titel haben etliche Größen des Blues, Soul und Rock’n’Roll gecovert - von B.  B. King über Ray Charles bis hin zu Jerry Lee Lewis.

Einziger Wermutstropfen: Das grandiose Konzert hätte ein größeres Publikum verdient gehabt.  boh

Kreisszeitung v. 21.01.2019

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